09.09.2020 von RA Oliver Mogwitz
Fast wie eine Sensation ging das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19 – durch die Presse. Der BGH stellte fest, dass die strategische Entscheidung von VW, eine Typgenehmigung der Fahrzeuge durch arglistige Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamts zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge alsdann in Verkehr zu bringen, wertungsmäßig einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugkäufer gleichsteht. Leider nur scheinbar verbraucherfreundlich. Denn wirklich sinnvoll ist die Rückabwicklung in seltenen Fällen. Verlangt der Verbraucher Rückzahlung des Kaufpreises gegen Rückgabe des Fahrzeugs, hat er an VW – und andere betroffene Fahrzeughersteller – Nutzungsersatz zu leisten.
Die Anrechnung der gezogenen Nutzung kann sogar so weit gehen, dass sie den Schadensersatzanspruch des Käufers vollständig aufzehrt (BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 354/19).
Fahrzeughersteller profitieren also davon, dass Fahrzeuge mit gepfuschten Abgaseinrichtungen gefahren werden. Je mehr die Umwelt durch NOx-Abgase geschädigt wird, desto weniger Schadensersatz müssen die Fahrzeughersteller zahlen. Erklären lässt sich dies mit einem herbeigezauberten Rechtsinstrument der Vorteilsausgleichung. Verbraucher hätten ein voll nutzbares Fahrzeug erhalten, deswegen ist der Nutzungsersatz in voller Höhe zu leisten (BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 354/19). Eine Reduzierung des Nutzungsersatzes wegen arglistiger Täuschung kommt dem BGH zufolge nicht in Betracht. Solange der Verbraucher nicht weiß, dass er eine Sache nutzt, die nicht seinen Vorstellungen entspricht, beeinträchtigt dies auch nicht seine Nutzbarkeit. Merkt der Verbraucher, dass er getäuscht wurde, kann er zwar die Sache zurückgeben, der Hersteller bekommt allerdings den Nutzungsersatz, sodass sich die Täuschung für ihn aber auch nicht wirklich nachteilig auswirkt. Da sehen die Verbraucher wieder einmal Schwarz.
Nun ist Geschichte mit dem Nutzungsersatz damit nicht zu Ende. Auch wenn der BGH seine Ansicht dazu in den jüngsten Entscheidungen mehr als deutlich mitteilte.
Das abtrünnige Landgericht Erfurt hat bereits im Juni dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (LG Erfurt, EuGH-Vorlage vom 15.06.2020 – 8 O 1045/18) und zwar:
Gebietet es das Recht der Union, insbesondere der Effektivitätsgrundsatz und die europäischen Grundrechte, im Falle eines Verstoßes des Herstellers eines Fahrzeuges oder Motors gegen das europäische Zulassungsrecht und gegen europäische Abgasnormen keine Anrechnung der tatsächlichen Nutzung des Fahrzeuges auf den Schaden des Käufers vorzunehmen?
Und darüber hinaus:
Gilt ein solches Abzugsverbot jedenfalls für den Fall, dass ein Hersteller den Kunden sittenwidrig vorsätzlich schädigt?
Nach Ansicht des Gerichts erscheint beides – Sanktionierung wie Präventionswirkung – in Frage gestellt, wenn sich Rechtsverletzungen „rechnen“, d.h. weitgehend risikolos begangen werden können. Die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Saldierung (also Abzug des Nutzungsersatzes) könnte zu einer unbilligen Entlastung des Schädigers führen. Durch den Zeitablauf kommt eine Vorteilsausgleichung nämlich zunehmend den Herstellern zugute, während die geschädigten Käufer unzumutbar belastet werden. Mithin kann ein starker Anreiz entstehen, die Rechtsverletzung gleichwohl zu begehen und die Anspruchserfüllung ungehörig zu verzögern (LG Erfurt, EuGH-Vorlage vom 15.06.2020 – 8 O 1045/18).
Das skurrile an der Vorlage des LG Erfurt ist, dass das Gericht den EuGH gleichzeitig fragt, ob es ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne des Art. 267 AEUV sei. Da muss man die Passage gleich zwei Mal lesen, denn welches Gericht würde sich erst über seine eigene Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vergewissern? Anscheinend ist im Prozess die Unabhängigkeit des Landgerichts Erfurt angezweifelt worden, weil „Organisation und Verwaltung der Gerichte“ „in der Hand der Exekutive“ liegen, „die die Gerichte überwölbt und personell wie materiell steuert“. „Die Justizministerien entscheiden über die Planstellen und die Anzahl der Richter an einem Gericht sowie die materielle Ausstattung der Gerichte.“ „Die zugrunde liegende Beurteilung der Richter obliegt den Ministerien und Gerichtspräsidenten, die – bis auf eine etwaige eigene richterliche Tätigkeit – der Exekutive zuzurechnen sind.“
Das bringt nur Staunen hervor. Einer der größten Fahrzeughersteller lässt kein Argument ungenutzt und entzieht den Gerichten sogar ihre Entscheidungsbefugnis, weil diese plötzlich der Exekutive zuzuordnen sind. Auch, wenn dies das ganze Rechtssystem völlig auf den Kopf stellt. Wie es auch sein mag, sind wir auf die Entscheidung des EuGH, Rs. C-276/20 gespannt. Dass der EuGH die Entscheidungspraxis des Bundesgerichtshofs, den Schummel-Fahrzeugherstellern den Nutzungsersatz zuzusprechen, gutheißen wird, ist höchst unwahrscheinlich.